Lasst uns nun anschaun den Weinstock

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1
Lasst uns nun anschaun den Weinstock,
Lernt aus seinem Leben heut,
Denn in hartem, kargem Boden,
Wächst er leidend, doch sich freut.
Er gleicht keiner wilden Blume,
Die doch vielen sehr gefällt,
Durcheinander, frei sie wachsen,
Bilden Formen ungezählt.
2
Doch die Blüten eines Weinstocks,
Klein und ohne Herrlichkeit,
Unscheinbar und kaum zu sehen,
So bescheiden allezeit;
Doch der Tag kommt, da die Blüte
Wird zur Frucht gewachsen sein;
Keine Blumenkrone ziert sie,
Nichts an ihr ist schön und fein.
3
Festgebunden wird der Weinstock,
Dass er wächst nicht wild und frei;
Wenn die Reben sind gewachsen,
Der Spalier ihr Halt dann sei.
Aus dem harten Ackerboden
Muss er seine Nahrung ziehn;
Kann den eignen Weg nicht wählen,
Noch vor Schwierigkeiten fliehn.
4
Oh wie schön ist’s, wenn er grün wird,
Und im Frühling sich ausstreckt?
Lebenskraft und Lebensfülle
Reiches Rebenwachstum weckt.
Dichtes Laubwerk zarter Sprossen
Rankt nun frei und ungericht,
Streckt sich aus zum Blau des Himmels
Und genießt das Sonnenlicht.
5
Doch der Winzer dieses Weinbergs
Keine Nachsicht übt und rügt,
Mit der Schere stutzt er alles,
Was sich stolz gibt, sich nicht fügt.
Wenn der Weinstock auch noch zart ist,
Sitzt genau und tief der Hieb,
Die zu vielen Ruten fallen,
Nimmt der Geize jeden Trieb.
6
Seit der Schnittzeit dieser Weinstock
Nur im Selbstmitleid verweilt?
Nein, er gibt sich selbst noch mehr dem,
Der die Hiebe hat erteilt,
In die Hand, die ihn beschneidet,
Bis die Schönheit ist vorbei,
Dass sein Leben nicht vergeudet,
Für die Frucht allein nur sei.
7
Wo sich Wunden wieder schließen,
Neues hartes Holz sich zeigt,
Jede Rebe, die geblieben,
Voller Trauben tief sich neigt.
Bis in heißem Sonnenglühen
Blätter welken jeden Tag;
Und so reift die Frucht noch reicher,
Bis man erntet den Ertrag.
8
Unter ihrer Last, den Früchten,
Beugt die Rebe sich herab –
Welch ein Wachstum bringt die Arbeit,
Als dem Schnitt er sich hingab!
Dass die Frucht nun ganz gereift ist,
Jeden Weinstock sehr erfreut;
Doch bald kommt die Zeit der Ernte,
Und das Leid beginnt erneut.
9
Hände pflücken, Füße treten
Seine Fülle ganz gewillt,
Bis die Kelter rot aussehn,
Und ein Strom aus Wein entquillt.
Blutig rot und ohne Mischung
Fließt er reich und süß zugleich,
Für Genuss und Freude sorgt er,
Füllt das ganze Erdenreich.
10
Jetzt sieht er erbarmenswert aus,
Er ist arm und kahl gemacht;
Alles hat er hingegeben,
Und nun überkommt ihn Nacht.
Niemand bietet ihm Vergeltung
Für den Wein, froh einverleibt,
Immer mehr wird er geschnitten,
Nur ein leerer Stumpf noch bleibt.
11
Wärme schenkt sein Wein im Winter,
Süße allen denen bringt,
Die belastet sind mit Leiden,
Die die Kälte rau durchdringt.
Doch der Weinstock, draußen einsam,
Tief im Schnee und Eis muss stehn,
Er erträgt sein Los dort standhaft,
Wenn’s auch schwer ist zu verstehn.
12
Nach dem Winter macht der Weinstock
Sich für neue Frucht bereit;
Knospen spriessen, Reben wachsen,
Lieblich grün ist nun sein Kleid;
Er beklagt sich nie und murrt nicht,
Dass der Winter schmerzhaft war;
Trotz Verlust will er sein Opfer
Nicht vermindern dieses Jahr.
13
Während er die Arme ausstreckt,
Luft einatmet, himmlisch rein,
Nein, was irdisch ist und unrein,
Nimmt den Weinstock niemals ein.
Opfer bringt er, doch er lächelt,
Denn in Liebe ist der Schnitt,
Schläge trägt er, als ob niemals
Er zuvor Verlust erlitt.
14
Aus den Reben dieses Weinstocks
Fließt sein Saft, sein Blut und Wein.
Wird sein Wachstum durch viel Leiden
Und Verlust je ärmer sein?
Trunkenbolde auf der Erde
Schenken übermäßig ein.
Werden sie durch viel Vergnügen
Und Genuss je reicher sein?
15
Unser Leben wird gemessen
Nach Verlust, nicht nach Gewinn;
Wie viel Wein wir trinken, zählt nicht,
Doch wie viel wir geben hin.
Denn im Opfer, das wir bringen,
Ist die Liebe stark fürwahr,
Wer durch tiefstes Leid gegangen,
Reicht am meisten Leben dar.
16
Nur wer streng mit sich selbst umgeht,
Ist Gewinn für unsren Gott;
Wer Verletzungen erduldet,
Kann die trösten, die in Not.
Wer das Leiden niemals annimmt,
Nur wie leere Bronze klingt;
Wer sein Seelenleben hingibt,
Grösste Freude ihn durchdringt.